Multimobilität

Mobilität gilt als Megatrend. Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts nehmen Mobilität und nehmen die gesellschaftlichen Beschleunigungsprozesse stetig zu. Mobilität braucht und schafft Verbindungswege und -netze: Zunächst wurden die natürlichen Wasserwege genutzt, dann Wege, Strassen und das Eisenbahnnetz gebaut. Schliesslich lösen sich in rascher Folge Generationen unterschiedlicher Kommunikationsnetze und -technologien ab.

Mit der Mobilität entsteht auch das Bedürfnis nach einer standardisierten Weltzeit mit Kalender und Uhr. Heute leben wir in einer global synchronisierten Welt. Mobilität betrifft Menschen, Waren, Kapital, Informationen, Ideologien etc. Kurz: Kaum etwas prägt das moderne Leben so sehr wie die Mobilität. Sie zieht Umbrüche, Flexibilität, Wandel und Dynamik nach sich. Die Zukunftsforschung bezeichnet die Gegenwart daher als «multimobiles Zeitalter». Was das bedeutet, zeigen die folgenden vier Trends und Gegentrends:
  • Multimobilität schafft Zugewinne und Einschränkungen: Mobilität vervielfacht die Möglichkeiten, also mehr Jobwechsel, mehr Wohnortwechsel, mehr Partnerschaften, mehr Kontakte etc. Andererseits reduzieren sich mit der Mobilität die Bindungen: weniger traditionelle Werte und Normen, weniger Stabilität, weniger Sicherheit und weniger Orientierung. Die Vielfalt an Lebensformen und Milieus nimmt zu. Traditionelle und modernere Lebensformen finden sich nebeneinander. Insgesamt steigt der Anspruch an die Lebensführungskompetenz des Einzelnen und in der Folge der Bedarf an Unterstützung mittels Orientierungswissen, Anleitung, Coaching, Beratung etc. Auch die Ansprüche gegenüber den entsprechenden Leistungsangeboten der öffentlichen Hand erhöhen und vervielfältigen sich. In der multimobilen Gesellschaft ist es daher selbstverständlich geworden, Hilfe in Anspruch zu nehmen;
  • Multimobilität schafft Beschleunigung und Entschleunigung: Zur Beschleunigung lässt sich schlicht alles zählen, was im Zuge des technologischen Fortschritts an neuen Lebensqualitäten geschaffen wurde. Das hat auch Schattenseiten (vgl. beispielsweise Rosa, 2013/2010). Alles, was sich beschleunigen lässt, verliert an Wert (was nicht heisst, dass es nicht teuer sein kann). Das gilt für Ideen, Waren, Erlebnisse. Beschleunigung führt zu materiellen und immateriellen Wegwerfstrukturen, zu Gegenwartsverknappung und zu Erschöpfungs- und Entfremdungserfahrungen. Als Reaktion auf diese Folgen von Beschleunigungsprozessen gewinnen Geborgenheit, Authentizität, Letztgültiges (z. B. Religionen), Resonanz und Responsivität an Wert. Alles Nichtbeschleunigbare (z. B. Schwangerschaften, individuelle Entwicklungs- und Bildungsprozesse) erscheint im Vergleich zu den beschleunigten Prozessen noch langsamer, noch unverfügbarer und schlechter synchronisierbar. Dieses Invariante erhält aber gerade dadurch seine besondere Qualität;
  • Multimobilität schafft zweiwertige Orte: Orte verlieren ihre bindende Kraft. Relevant sind vor allem Netzknotenpunkte, verkehrstechnische und kommunikative, reale und virtuelle. Das sind die bevorzugten Arbeits- und Lebensräume. Für Netzknotenpunkte gilt: Man sieht und wird gesehen, hat Anschluss und kann Anschluss bekommen. Gleichzeitig erhöht sich die Bedeutung von Rückzugsmöglichkeiten und Orten der Intimität. Es entsteht der Wunsch, über An- und Ausschluss selbst bestimmen zu können (vgl. «being digital!»). Insbesondere «Dritte Orte» (aus AJB-Sicht beispielsweise: Bibliotheken, Infotheken, Familienzentren, aber vielleicht auch neu zu gestaltende Kollaborations-, Beratungs- und Aufenthaltsräume in zentralen AJB-Hubs etc.) sollen beide Qualitäten bieten;
  • Multimobilität schafft zweiwertige Zeiten: Der uniforme Nine-to-Five-Lebensrhythmus der industriellen Ära mit starrer Trennung von Arbeits- und Freizeit weicht einem flexiblen Lebensstil. So steigen die Erwartungen an eine Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit von Einkaufsmöglichkeiten, Unterhaltungsangeboten, Dienstleistungen etc. Das gilt auch für Informations-, Beratungs- und Unterstützungsangebote. Gleichzeitig erhöht sich der Wert von Zeiten der Unverfügbarkeit, der Privatheit, der Nichterreichbarkeit etc. Und wiederum: «Dritte Orte» sollen beide Qualitäten bieten.
Ein weiterer Aspekt von «Multimobilität» ist die Migration. Infolge der Migration - insbesondere der Migration vom Land in die Megastädte - entstehen weltweit Ankunftsorte oder «Arrival Cities» wie Doug Saunders sie bezeichnet (Saunders, 2011). Die Merkmale solcher Ankunftsorte finden sich – allerdings in viel kleinerem Format - auch in den Agglomerationen des Kantons Zürich: Migration als multilokales Familienerwerbsprojekt, Wohnorte als Transitprovisorien bzw. biografische Lande- oder Absprungbahnen. Die Netto-Zuwanderung aus dem Ausland hält gemäss Bevölkerungsprognosen des Kantons Zürich in den nächsten Jahren an. Das Wachstum der ausländischen Bevölkerung schwächt sich aber bis 2025 tendenziell wieder ab.

«Trends sind Postulate, das heisst, sie werden behauptet, argumentativ hergeleitet und mit Fakten belegt, aber lassen sich nicht in einem wissenschaftlichen Sinne erhärten.»

André Woodtli

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