Familie als Netzwerk
Die Familie befindet sich in einer Trendwende von der «Kernfamilie» zur Familie als Netzwerk. Mit Beginn der Vormoderne vor ca. 500 bis 600 Jahren zeichnete sich zunächst der Megatrend «Kernfamilie» ab: Die Familie wird kleiner, geschlossener und intimer:
- Die Anzahl der Kinder nimmt deutlich ab, die Anzahl der Geburten sogar dramatisch;
- Familie umfasst nicht mehr die gesamte Hausgemeinschaft (also Mägde, Knechte, deren Kinder und weitere Angehörige);
- die Heteronomie in der Arbeitswelt wird der Autonomie im Familienleben gegenüber gestellt.
Dieser Megatrend «Kernfamilie» ist eine sogenannte Kokonisierung von Familie (vgl. Goody, 1989 sowie Koschorke, Ghambari, Esslinger, Susteck & Taylor, 2010). Im Laufe des 18. Jahrhunderts entstand schliesslich die romantische Idee der Kleinfamilie. Der Höhe- bzw. der Schlusspunkt des Trends stellt – familiensoziologisch gesehen – das Leitmodell «bürgerliche Kernfamilie» dar, wie es wohl nur im Jahrzehnt der Nachkriegszeit und des Wirtschaftswunders einigermassen verwirklicht wurde. Doch das Leitmodell der «bürgerlichen Kernfamilie» prägte das gesamte 20. Jahrhundert entschieden (vgl. dazu die Rede vom Jahrhundert des Kindes, vom sozialpädagogischen Jahrhundert etc.). Besonders prägt es die Entwicklung der Hilfestellungen der öffentlichen Hand zugunsten von Familien und damit einer normativen Engführung eines bestimmten Modells von Familie.
In Westeuropa – und mit zeitlichem Verzug etwa zu den skandinavischen Ländern in der Schweiz – kann nun eine Trendwende vermutet werden. Sie ist vielleicht erst mit der Schubkraft eines Gegentrends unterwegs, aber sie wird zweifellos stärker. Diese Trendwende wird von vier Faktoren angetrieben:
- Die soziale und wirtschaftliche Gleichstellung von Frau und Mann,
- die ökonomische Notwendigkeit eines Zwei-Eltern-Einkommens,
- die relative kurze Dauer von Paarbeziehungen auf der Grundlage von «romantischer Liebe»
- sowie die stärkere Akzentuierung der «Bildungssystemfunktion» von Familie.
Die «Kernfamilie» öffnet sich, ohne dabei das warme, intime und von intensivem Beziehungsgeschehen geprägte Familieninnenleben als Bindungs- und Bildungsraum preiszugeben. Im Gegenteil: Es wird transparenter, sichtbarer und überprüfbarer, dass die Familie als Mini-Bildungssystem genau diese Qualitäten bereitzustellen hat. Mit der Öffnung der Kernfamilie geht nun gerade keine Aufgaben-, Temperatur- und Funktionsverschiebung einher wie mit der «Kokonisierung der Familie», sondern es etabliert sich eine «Familienerziehung in öffentlicher Mitverantwortung» (vgl. Jurczyk, Lange & Thiessen, 2014 sowie Jurczyk & Klinkhardt, 2014).
Die sich öffnende Kernfamilie wird funktional eindeutiger (vgl. Rössler 2001, S. 279ff). Aus Sicht der Mehrgenerationenperspektive entwickelt sich ein «Care-System». Gleichzeitig bilden sich netzwerkartig erweiterte familiale Strukturen. Diese Vielfalt äussert sich insbesondere durch: die Rollen- und Aufgabenteilung der Geschlechter, den Einsatz familienergänzender Betreuungsmöglichkeiten, die Gestaltung des Familienhaushalts und die zunehmende Multilokalität von Familien sowie ein Verständnis von Elternschaft, das nicht mehr ausschliesslich auf Partnerschaft abstellt bzw. abstellen kann. So sind romantische Liebe, genetische und biologische Mutter- und Vaterschaft sowie Heterosexualität als Bedingungen für Elternschaft obsolet geworden.
Die Betreuung und Erziehung von Kindern wird innerhalb eines «Familienprojekts» geplant, konzipiert, organisiert und weiterentwickelt. Normativität wird damit zu einer Herstellungsaufgabe – nämlich zur Herstellung von Normalität (vgl. Winkler, 2012) - innerhalb des Familiensystems und kann nicht mehr fraglos von aussen bezogen werden. Die Rolle von Subunternehmenden fällt denjenigen zu, die die Kinder zur temporären Betreuung übernehmen: Grosseltern, Krippen, Tagesfamilien, Horte, Nachbarschaftshilfen u. a. All diese Akteure, die (mit)erziehen, (mit)betreuen und (mit)unterrichten, werden von der Familie als kleine «familiale Bildungslandschaft» gemanagt. Diente früher die Familie der Sippenbildung, so dient heute die «Bildungssippe» dem Projekt Familie.
«Für eine gute Familienpolitik ist es notwendig, die Vielfalt von Familienformen und ihren unterschiedlichen Alltag zu berücksichtigen.»
Doing Family, Erklärfilm
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