Mehr Investition pro Kind

Der oft beschriebene Megatrend, der eben auch zu mehr Investition pro Kind führt, ist die Individualisierung. Dazu gehören: Die Leitidee eines individuell gelingenden Lebens, die Pluralisierung der Lebensstile, der Gültigkeitsverlust der Normbiografie, die Tendenz zur Selbstoptimierung. Mehr Investition pro Kind ist ein irreversibler Trend, der bislang wenig beschrieben wird (vgl. Klett, 2013 sowie Baader, Esser & Schröer, 2014). Mehr Investition pro Kind steht in Bezug zur Herausbildung der modernen Familie (vgl. Familien als Netzwerk) und zur demografischen Entwicklung (vgl. Caring Community).

Das Gesetz der Evolutionsbiologie lautet: Je weniger potenzielle Nachkommen geboren werden, desto intensiver werden sie betreut und desto höher sind die Investitionen. Durchaus mit Konsequenzen für Eltern, Familien, grössere Gemeinschaften und für die Gesellschaft insgesamt. Wenig Brutpflege betreiben z. B. Insekten, Amphibien und Reptilien. Befruchtete Eier werden sich selbst überlassen. Säugetiere betreiben dagegen eine intensive Brutpflege. Zum Trend «Mehr Investition pro Kind» als gesteigerte Intensität des Sozialisationsprogramms zählen deshalb:

  • die dramatische Reduktion der Kindersterblichkeit und die niedrige Geburtenrate,
  • die Erfindung der schulischen Erziehung und die Einführung der Schulpflicht sowie der Ausbau des Bildungssystems,
  • die Erfindung der Familienerziehung und die Schaffung von öffentlichen Familien- und Erziehungshilfen.


So steigen die Ausgaben der öffentlichen Hand pro Kind in den vergangenen 150 Jahren kontinuierlich an. Und Kinder bedeuten für Eltern eine zunehmend höhere finanzielle Belastung. Wobei hinsichtlich des Kinderwunsches wohl weniger die direkten Kosten als vielmehr die Opportunitätskosten ausschlagegebend sind. Nur etwa die Hälfte aller Familien in der Schweiz sieht sich imstande, diese Belastungen überhaupt zu tragen. Ohne staatliche Transferleitungen würden gut 30 Prozent aller Kinder in der Schweiz in Armut aufwachsen. Heute sind die Kinder von alleinerziehenden Eltern am stärksten von Kinderarmut betroffen. So herrscht bei 26 Prozent der Alleinerziehenden Kinderarmut (vgl. Bertram & Deuflhard, 2015; Amacker, Funke & Wenger, 2015 sowie Stutz et al., 2017).

Zur Ausprägung dieses Trends gehören auch die Tatsachen:

  • dass Eltern noch nie so viel Zeit für ihr Kind bzw. ihre Kinder wie heute investiert haben, obwohl zunehmend beide Eltern einer Erwerbsarbeit nachgehen. Kinder leben heute oft bis zum 30. Lebensjahr bei ihren Eltern. Zu keiner Zeit war die Phase der Adoleszenz länger. Noch in der Vormoderne verliessen rund 90 Prozent der etwa Zwölfjährigen ihre Familien. Damit verändert sich der Stellenwert jedes einzelnen Kindes. Mehr Sorge, mehr Aufmerksamkeit und mehr Instruktion führen zu einem individualisierten Sozialisationsprogramm;
  • dass die Massnahmen der öffentlichen Hand zur Entlastung der Familien insbesondere die Opportunitätskosten ausser Acht lassen und damit – unbeabsichtigt – ausschliesslich bei sozioökonomisch benachteiligten Eltern den Kinderwunsch anreizen;
  • dass Akademikerinnen und Akademiker (vgl. oben: kaum überraschend) seit Jahrzehnten weniger Kinder bekommen. Dieser Wert bleibt stabil, allerdings nimmt der Anteil an Akademikerinnen und Akademiker laufend zu (vgl. Trend: «Bildung = Erfolg!»?). Das führt dazu, dass die familiale Erziehung und Betreuung der Kinder hinsichtlich Bildungsniveau und sozioökonomischem Status in, gesamtgesellschaftlich gesehen, unterdurchschnittlichen Verhältnissen geleistet wird;
  • dass sich in der Folge auch die Schere zwischen den Kompetenzen von Kindern aus privilegierten und weniger privilegierten Familien weiter vergrössert;
  • dass Eltern ihre Investitionen für das «Kind» emotional und intentional übertreiben können (Helikoptereltern, «stage mother», vgl. Kraus, 2013)
  • dass potenzielle Eltern zwischen 28 und 35 Jahren in der sogenannten «Rushhour des Lebens» stehen, das heisst, gleichzeitig die Ausbildung abschliessen, ins Arbeitsleben einsteigen, eine Partnerin bzw. einen Partner suchen und eine Familien gründen sollten;
  • dass die menschliche Reproduktion unumkehrbar ins «Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit» eingetreten ist. Die Reproduktionsmedizin macht Kinder (vgl. Bernard, 2014). In rund 140 deutschen Reproduktionszentren werden pro Jahr über 10.000 Kinder ausserhalb des Mutterleibs gezeugt. Jede 40. Geburt geht auf diese Praxis zurück, und weltweit sind so bisher fünf Millionen Kinder entstanden. Ein Kind kann heute folgende Eltern aufweisen: Den Samenspender, die Eizellenspenderin, die Leihmutter und die beiden sozialen Eltern zuzüglich weiterer Elternsubstitute, mit denen es zusammen lebt. Auch dort zeigt sich die gesteigerte Investition: Die Zahl der Elternfiguren pro Kind hat sich vervielfacht.
  • dass vor dem Hintergrund der Digitalisierung die Bedeutung der Ressource Wissen zunimmt. Die volkswirtschaftlichen Anforderungen an das «Human- und Sozialkapital» steigen. Die Qualitätsanforderungen und der Leistungsdruck nehmen auf allen Bildungsstufen, ja, bereits im Vorschulalter zu. Dies kann zu erhöhtem Stress und zu vermehrten psychischen Erkrankungen bei Kindern, Jugendlichen und Eltern führen.

Zum Schluss sei schliesslich darauf hingewiesen, dass «mehr Investition pro Kind» nicht nur einen Trend beschreibt, sondern durchaus als konkrete familien- und bildungspolitische Forderung zu lesen ist, so formuliert beispielsweise die Schweizerische UNESCO-Kommission bereits bzw. noch 2009 im Rahmen ihrer Grundlagenstudie: «Es braucht mehr Investitionen in die frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung» (Stamm, 2009).

Mehr Investition pro Kind

«Helikopterpädagogik raubt den Kindern die Zukunft, weil Kinder, die auf diese Weise erzogen werden, keine Selbständigkeit und keine Eigenverantwortung entwickeln.»

Josef Kraus, Pädagoge